Texte

Geburtshelfer Zensur

Warum ich nicht Verleger werden wollte und es dann doch geworden bin
(Beitrag für den Band "Ausgerechnet Bücher. 31 verlegerische Selbstporträts", Berlin 1998)

Eigentlich wollte ich nie Verleger werden. Das Beispiel meiner Eltern schreckte zu sehr. Im Monat meiner Geburt, im September 1954, begann mein Vater als frisch diplomierter Germanist im Verlag Volk und Welt Berlin als Lektor zu arbeiten. In meiner Kindheit sah ich ihn vergleichsweise wenig, und wenn, dann in Begleitung von Autoren, Fotografen oder Gestaltern. Ob sie Bobrowski, Hochhuth oder Frisch hießen, interessierte mich wenig. Meine Mutter, zunächst Deutschlehrerin, wechselte bald auch ins Verlagsgeschäft und landete im Philosophie-Lektorat des Deutschen Verlages der Wissenschaften. Die Gespräche am Familientisch lassen sich erahnen.
Mit dieser Welt, die einen Menschen so ganz mit Haut und Haaren fraß, daß Arbeit und Privatleben nicht mehr auseinanderzuhalten waren, wollte ich nun wirklich nichts zu tun haben. Außerdem galt es, etwas Eigenes zu finden, das sich erkennbar von den vorgezeichneten Familienwegen absetzte.
In den frühen siebziger Jahren entbrannte mein Interesse für Lateinamerika. Nach dem Tod von Che und dem gescheiterten Umgestaltungsversuch in Chile empörte mich das Wüten der südamerikanischen Militärs. Emotional gestärkt wurde ich dabei durch die Auftritte der exilierten Musiker beim alljährlichen "Festival des politischen Liedes" in Ost-Berlin, an dem ich begeistert mitarbeitete. So entstand mein Wunsch, Lateinamerikanist zu werden und etwas gegen die Ungerechtigkeit in diesem Teil der Welt zu unternehmen. Da die wenigen Studienplätze für dieses Fach in der DDR bereits alle vergeben waren, entschloß ich mich, in Berlin Philosophie zu studieren und parallel dazu in Leipzig eine Zweitausbildung am dortigen Lateinamerika-Seminar aufzunehmen. Hier konnte ich mich auch politisch relativ identisch bewegen, denn die Vorgänge in Lateinamerika waren nicht mit derart vielen Tabus blockiert wie etwa die Kulturpolitik der DDR oder die Entwicklung in den anderen osteuropäischen Ländern.
Doch meine unbewußte Flucht vor den erstarrten Verhältnisse zu Hause in ferne abenteuerliche Welten wurde relativ bald auf den Boden der Realitäten zurückgeholt. Nachdem ich 1980 mit der "Berliner Zeitung" als Lateinamerika-Redakteur angefangen hatte, war ich schnell in die Zwänge des journalistischen Alltags eingebunden und hatte auf alle taktischen Winkelzüge der Partei- und Staatspresse Rücksicht zu nehmen. Diese machten auch vor entfernten Kontinenten nicht halt, galt es doch allerorten, die außenwirtschaftlichen Interessen der angeschlagenen DDR-Wirtschaft zu fördern. So wurden monatelang kritische Artikel über die argentinischen Militärs auf Eis gelegt, wenn die Hoffnung auf den Verkauf von zwei Hafenkränen für Buenos Aires bestand.
Den Einengungen der Tagespresse versuchte ich nun durch Buchprojekte zu entkommen, denn Verlage wurden bekanntlich an einer längeren Leine als die Tagespresse geführt. Während die erste Publikation "Contras contra Nicaragua" im Berliner Dietz-Verlag 1985 problemlos über die Bühne ging, gab es beim zweiten Buch über die politische Geschichte Mittelamerikas schon spürbar Ärger. Wie ich im Vorfeld der Veröffentlichung erfuhr, mußte jedes Buchmanuskript in der DDR, das sich mit einem außenpolitischen Thema beschäftigte, zunächst von einer Fachabteilung des Zentralkomitees der SED oder des Außenministeriums begutachtet werden. Erst wenn diese Prüfung positiv ausgefallen war, gab es die erforderliche Druckgenehmigung des Kulturministeriums, ohne die kein Buch veröffentlicht werden durfte, nicht mal Goethe oder Shakespeare. Im konkreten Fall mißfiel dem Zensor in "Sechsmal Mittelamerika - Konflikte einer Region" eine Passage über die direkte Demokratie im revolutionären Nicaragua, wo sich jeden Monat ein Regierungsvertreter oder Parteifunktionär öffentlich den kritischen Fragen der Bevölkerung stellt und dies auch vom Fernsehen übertragen wurde. Da die Altherrenriege des SED-Politbüros schon längst nicht mehr irgendwelche Fragen an sich heran ließ, sollte nun auch nicht über derartige Vorgänge in anderen Ländern berichtet werden. Die eigene Bevölkerung hätte ja auf dumme Gedanken kommen können. Also mußte ich die entsprechende Stelle umschreiben. Derart frustriert, sann ich nach Möglichkeiten, dieses Procedere zu umgehen und träumte von einem unabhängigen Sachbuch-Verlag, in dem ich ungestört veröffentlichen konnte, was ich tatsächlich dachte. Auch meinen Freunden, denen es mit ihren kritischen Texten ähnlich ging, wollte ich ein entsprechendes Podium bieten. Der Weg dorthin schien allerdings unendlich weit.
Doch die Staatssicherheit stand mir auf ihre Weise hilfreich zur Seite. 1986 beschloß sie, mich als politischen Redakteur aus der "Berliner Zeitung" zu entfernen, da meine anhaltenden Kontakte zum Rudi-Bahro-Kreis mich als "Träger revisionistischen Gedankengutes" ausweisen würden. Um öffentlichen Ärger zu vermeiden, suchte man nach einem möglichst unspektakulären Abgang und delegierte mich zu einem Promotionsstudium der Lateinamerikanistik, unter der Voraussetzung, daß ich niemals in die Redaktion zurückkehren würde. Da mir jedoch nichts an einer reinen Wissenschaftskarriere lag, versuchte ich einen Betrieb vom Modell einer "außerplanmäßigen Aspirantur" zu überzeugen, um mit dem praktischen Berufsleben verbunden zu bleiben. Danach wurde man zwei bis drei Monate im Jahr bezahlt freigestellt, um die Dissertation voranzubringen, arbeitete ansonsten aber normal. Auf eine solche Variante ließ sich der Aufbau-Verlag ein, da Verleger Elmar Faber zu diesem Zeitpunkt dringend einen Assistenten der Geschäftsleitung suchte. (Der vorige hatte wegen fortgesetzter Trunkenheit am Schreibtisch gerade den Verlag verlassen.)
So war ich nun doch in einem Verlag gelandet, wenn auch in einem rein belletristischen. Hier lernte ich von der Pieke auf, durchlief die verschiedenen Abteilungen des Hauses und hospitierte in Setzereien wie Druckereien. Meinen Sachbuchambitionen zeigte man jedoch stets die kalte Schulter. Das zugeteilte Papier reichte nicht einmal, um Christa Wolf oder Christoph Hein ausreichend zu drucken. Was wollte ich da mit der ohnehin politisch schwierigen Zeitgeschichte?
Anfang 1989 stellte ich daraufhin den Antrag an das DDR-Kulturministerium zur Gründung eines von Parteien und politischen Organisationen unabhängigen Sachbuchverlages, der ein eigenes Papierkontingent und entsprechende Druckereikapazitäten erhalten sollte, die damals von der staatlichen Plankommission zugeteilt werden mußten. Ohne sogenannten Bilanzanteil funktionierte nämlich gar nichts. Obwohl mich alle wegen dieser Windmühlen-Kämpfe nur mitleidig belächelten, wurde ich immerhin zum Gespräch beim Leiter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel gebeten. Dort allerdings verkündete man mir scheinheilig, daß dieser Initiative grundsätzlich nichts im Wege stehe, nur leider fehle es an Kontingent und Kapazität. Die sozialistische Planwirtschaft sei mit ihren 78 Verlagen völlig ausbilanziert und würde beim besten Willen keinen weiteren mehr verkraften. Von der Gefahr "unkontrollierten Agierens" war natürlich keine Rede.
Es dauerte nur noch wenige Monate, bis die verknöcherten Verhältnisse zu wanken begannen. Am 18. Oktober 1989 mußte der für die Pressezensur zuständige ZK-Sekretär Joachim Herrmann gemeinsam mit Erich Honecker und Wirtschaftschef Günter Mittag abdanken. Am 4. November 1989 fand in Berlin die größte unabhängige Demonstration der DDR-Geschichte statt, deren zentrale Forderung Presse- und Versammlungsfreiheit war. Am 9. November fiel die Mauer und drei Wochen später, am 1. Dezember 1989, die Zensur. Fortan sollte es keine Druckgenehmigungen mehr geben.
Nachdem ich in den Wochen zuvor mehr Zeit auf Demonstrationen und in Kirchen als an meiner fast vollendeten Doktorarbeit über das Theoriekonzept der Sandinisten verbracht hatte - sie erschien zwei Jahre später als Buch unter dem Titel "Sandinismus - Ein Versuch mittelarikanischer Emanzipation" in einem kleinen Kölner Verlag -, entschloß ich mich an jenem 1. Dezember, sofort einen Antrag für einen zeitgeschichtlichen Sachbuchverlag zu stellen. Die Geschichte des eigenen Landes war mir plötzlich viel näher als das ferne Lateinamerika, in das ich mich so viele Jahre geflüchtet hatte.
Doch die zuständige Verlagsabteilung im Kulturministerium befand sich bereits in Auflösung und erteilte keine Lizenzen mehr. Sie würden ab 1. Januar 1990 generell nicht mehr gebraucht, hieß es. Was also lag näher, als am 5. Januar 1990 beim Notar eine Verlags-GmbH zu gründen, auch wenn noch völlig unklar war, wie das Unternehmen künftig finanziert werden sollte, denn außer einigen gesparten Honoraren besaß ich nichts. Die Aufbruchstimmung im Land war aber so groß, daß sich nach den ersten Zeitungsberichten über unsere Gründung spontan völlig unbekannte Menschen aus verschiedenen Bezirken der DDR meldeten, die mit einer Einlage als stille Teilhaber das Projekt fördern wollten. Lange genug waren wichtige historische Themen tabuisiert gewesen, hatte es an einer kritischen Aufarbeitung gemangelt.
So fand ich mich plötzlich im eigenen Verlag wieder, also an einer Stelle, die ich immer umgehen wollte. Nicht nur das. Auch meine Frau Christina arbeitete nach anfänglicher Tätigkeit als Slawistik-Dozentin inzwischen als Lektorin in einem Verlag, und zwar bei Volk und Welt, den mein Vater Ende der siebziger Jahre in Richtung Leipzig verlassen hatte, weil er dort die Leitung der Verlagsgruppe Insel/Kiepenheuer übernahm.
Was also erklären meine beiden Töchter kategorisch? Niemals wollen sie in einem Verlag arbeiten, denn dann hätten ihre Kinder wieder Eltern, die selten greifbar sind und am Abendbrottisch womöglich nur über das eine reden.