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15 Jahre deutsche Einheit - Ein kritischer Rückblick

Vortrag zur Lesereise durch Südamerika im November 2005

Mit dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 war das Ziel verbunden, möglichst bald ein einheitliches Staatsgebilde zu formen und vergleichbare Lebensverhältnisse zu schaffen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl von der Christlich-demokratischen Union versprach dem Osten "blühende Landschaften" und versicherte, dass es "keinem schlechter gehen" werde. Auch der Chef der anderen großen Volkspartei, der Sozialdemokrat Willy Brandt, war zuversichtlich, dass "nun zusammenwächst, was zusammengehört". Doch 15 Jahre später müssen wir feststellen, dass dieses Ziel noch nicht erreicht worden ist, dass es noch immer große wirtschaftliche und mentale Unterschiede zwischen beiden Teilen Deutschlands gibt. Die fünf neu gebildeten Bundesländer im Osten des Landes können nicht aus eigener Kraft leben, jedes Jahr muss ein Drittel der dort notwendigen Geldmittel als Transferzahlungen aus dem Westen kommen.
Im Osten verdienen die Menschen nur etwa die Hälfte von dem im Westen, der Besitz an Geld und Immobilien liegt im Osten deutlich unter der Hälfte des westlichen Niveaus, die Arbeitslosigkeit ist dagegen doppelt so hoch. Das Ergebnis ist, dass über 1 Million Menschen aus dem Osten weggezogen sind, ganze Stadtteile inzwischen leer stehen und abgerissen werden, die Geburtenrate deutlich unter der des Westens liegt. Viele glauben nicht an eine Zukunft im Osten.
In unserem Buch "Am Ziel vorbei, Die deutsche Einheit - Eine Zwischenbilanz" haben wir uns auf die Suche nach den Ursachen dafür begeben. Dazu sind 20 Experten aus Ost und West von uns eingeladen worden, jeweils einen Bereich genauer zu analysieren: die Politik, die Wirtschaft, die sozialen Lebensverhältnisse, die Kultur, die Wissenschaft und die Medien. Abschließend haben ein Wissenschaftler aus dem Osten und ein Politiker aus dem Westen ihre Vorstellung über notwendige Veränderungen bei Gestaltung der deutschen Einheit dargelegt. Uns ging es darum, eine kritische, aber durchaus sachliche Bilanz vorzulegen, die keinen politischen Zwecken irgendeiner Richtung dient, weshalb in dem Buch Autoren der Christdemokraten, der Sozialdemokraten, der Grünen und der Linkspartei gleichermaßen vertreten sind. Wir wollen mit dem Band eine Diskussion über alle politischen Lager hinweg anstoßen, damit eine gesamtgesellschaftliche Diskussion in Gang kommt und wir gemeinsam nach Lösungsstrategien suchen können. Denn wenn es nicht gelingt, die internen Regionalprobleme zu lösen, wird Deutschland an Wirtschaftskraft verlieren und seine Ausstrahlungskraft zurückgehen, wird das Engagement bei der Bewältigung internationaler Konflikte und Katastrophen künftig nur noch geringer sein können.

Für die Beurteilung der aktuellen Probleme gab es in der Vergangenheit zwei gegensätzliche Erklärungsmuster - abhängig vom Wohnort des Betrachters. Im Westen war man der Meinung, dass der Rückstand des Ostens vor allem aus dem psychischen Zustand der dort lebenden Menschen herrührt, die alle vom Sozialismus deformiert worden seien. Die Ostler hätten nicht gelernt, selbständig zu handeln, aus eigenem Antrieb aktiv zu sein, sich in der neuen Freiheit zurecht zu finden. Man bescheinigte ihnen eine Ich-Schwäche, eine Obrigkeits-Hörigkeit, eine Versorgungsmentalität.
Das sahen die Ostler ganz anders. Für sie lagen die Ursachen der Probleme vielmehr in der Wirtschaftspolitik des Westens in den Jahren nach der Vereinigung. Die damalige konservative CDU-Regierung habenden Osten nur als Absatzgebiet für Westwaren betrachtet und über die Zentralverwaltung der staatlichen Unternehmen des Ostens, die so genannte Treuhandanstalt, die meisten Betriebe in der Region zerstört, um lästige Konkurrenz zu beseitigen. Tatsächlich sind beinahe 80 Prozent der Industriebetriebe der ehemaligen DDR geschlossen oder stark reduziert worden. Dies hatte vielfach aber damit zu tun, dass die Fabriken völlig überaltert und nicht mehr konkurrenzfähig waren.
Wir geben in unserem Buch eine andere Erklärung. Zwar haben die beiden bisher genannten Begründungen teilweise eine gewisse Berechtigung, doch liegt das Hauptproblem nach unserer Auffassung wo anders: Die Bundesrepublik Deutschland hat notwendige Reformen zu spät begonnen, sie hat sich den neuen Herausforderungen der Globalisierung zu spät gestellt.
Die Chance, mit der Einheit zugleich ein neues Deutschland zu gestalten, die gesamte Gesellschaft zu modernisieren, ihr eine neue Verfassung zu geben, wurde nicht ergriffen. Statt dessen hat man nach dem Sieg der westlichen Marktwirtschaft über die östliche Planwirtschaft sämtliche Strukturen aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung eins zu eins vom Westen in das öffentliche Leben des Ostens übertragen, ohne zu prüfen, ob diese überhaupt noch zeitgemäß waren. Dabei sind nicht nur viele Besonderheiten des Ostens übersehen oder missachtet worden, sondern man hat die teilweise überholten alten Regelungen noch einmal festgeschrieben und konserviert, statt sie umzugestalten, wie das zur gleichen Zeit andere westeuropäische Länder getan haben.
Da die alte Bundesrepublik eine erfolgreiche Entwicklung hinter sich hatte - es gab allgemeinen Wohlstand, wenig Streiks und soziale Konflikte, hohe Bildung, kaum Armut -, glaubte man, einfach so weiter machen zu können, nur jetzt auf einem größeren Territorium. Das hat sich inzwischen als Irrtum erwiesen. Die gerade gebildete neue Bundesregierung - eine große Koalition als Christdemokraten und Sozialdemokraten - steht vor riesigen Herausforderungen, um die seit 15 Jahren überfälligen Veränderungen endlich einzuleiten.

Das soll an vier Beispielen erläutert werden.
1.) Der Staatsaufbau. Deutschland ist nach dem 2. Weltkrieg von den vier Siegermächten USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion als zentraler Staat entmachtet worden. Um zu verhindern, dass eine neue gefährliche Großmacht entsteht, ist das Land in 15 Bundesländer aufgeteilt worden, fünf davon lagen unter sowjetischer Kontrolle, zehn unter westlicher Verwaltung, die Bundeshauptstadt Berlin war nochmals in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Viele staatliche Angelegenheiten, die in anderen Ländern zentral geregelt sind, wurden in Deutschland nunmehr in die Verantwortung der einzelnen Bundesländer gelegt, so die Polizeiverwaltung, die Bildung und die Kultur. Dazu ein Beispiel: Wenn man in einem Bundesland wie Brandenburg zu schnell mit dem Auto fährt, bekommt man dafür eine Strafe, die darin bestehen kann, dass man 4 Wochen Fahrverbot erhält und den Führerschein bei der Polizei abgeben muss. Wohnt man nun aber in Berlin, so kann man den Führerschein keinesfalls bei seiner Polizeistation im Land Berlin abgeben, sondern muss ihn nach Brandenburg schicken, damit die dortige Polizei den Führerschein vier Wochen lang verwahrt.
Legt ein Schüler in einem Bundesland das Abitur ab und will dann in einem anderen Bundesland studieren, ist nicht sicher, dass dort auch sein Schulabschluss gleichberechtigt anerkannt wird. Auch ein Lehrer kann nicht einfach von einem Teil Deutschlands in einen anderen wechseln, da dort womöglich seine Qualifizierung nicht gilt.
Dieser dezentrale Föderalismus geht so weit, dass jedes Bundesland eine eigene kleine Botschaft, eine sogenannte Landesvertretung, in der Bundeshauptstadt Berlin unterhält; neu gebaute Villen in der Nähe des Brandenburger Tores. Und nicht nur das, jedes der 16 deutschen Länder verfügt auch noch über eine entsprechende Botschaft in der belgischen Hauptstadt Brüssel, wo sich die Zentrale der Europäischen Union befindet.
Das alles ist unnötig und eigentlich überflüssig, zumal es auch sehr teuer ist und das Geld dringend für andere Aufgaben benötigt würde. Bei der Vereinigung mit der DDR war daran gedacht, eine neue Verfassung zu erarbeiten, sie mit der Bevölkerung zu diskutieren und dann in einer Volksabstimmung zu verabschieden. Doch man entschied sich dafür, das alte System der Bundesrepublik zu übertragen. Niemand wagt hier eine Reform und eine Vereinfachung. Im vergangenen Jahr haben die 16 Länder und die Bundesregierung erstmals versucht, diesen Zustand zu ändern, doch ist die dafür eingerichtete Föderalismuskommission kläglich gescheitert.

2.) Das Rechtssystem. Es ist eines der teuersten und umständlichsten der Welt. Auch kleine Streitigkeiten - und die Deutschen streitet gern, denn jeder will am liebsten Recht haben - über mehrere Instanzen vom Amtsgericht über das Landgericht und das Oberlandesgericht bis hin zum Bundesgerichtshof getragen werden. Diese Verfahren dauern oft Jahre, verschlingen unendliche Summen, so dass viele Betroffene sich das gar nicht leisten können. Der einfache Bürger kann sich nicht selbst verteidigen, sondern braucht stets einen Anwalt, weshalb dieses System vor allem die Rechtsanwälte begünstigt. Sämtliche komplizierte Rechtsvorschriften sind auf den Osten komplett übertragen worden. Im Frühsommer 1990 versuchte die DDR-Regierung noch, den Weg der Rechtsangleichung zu beschreiten, also bewährte einfache Regelungen - etwa im Familienrecht oder im Prozessrecht - zu erhalten und nur dort neue Bestimmungen einzuführen, wo die DDR-Justiz undemokratisch war. Doch dann wurde nach der Schaffung der Währungsunion am 1. Juli 1990 von Bonn aus entschieden, dass eine komplette Rechtsübernahme aller Gesetze zu erfolgen habe.
Die Rechtsanwälte haben bisher jede grundlegende Justizreform verhindert, keine gesamtdeutsche Regierung hat es in den letzten 15 Jahren geschafft, hier eine Modernisierung zu bewirken. Ein erfolgreicher Rechtsstaat kann aber mit viel weniger Instanzen auskommen, wie andere Länder beweisen.

3.) Das undurchsichtige Steuersystem. Deutschland gilt bekanntlich als Exportweltmeister. Über 70% der Wirtschaft lebt von der Ausfuhr deutscher Waren und Patente. Dazu gehört auch das Konzept für ein einfaches Steuersystem. Deutsche Wissenschaftler haben es erarbeitet und in anderen Ländern erfolgreich eingeführt, so zum Beispiel in Slowenien, einem kleinen Staat in Osteuropa, der nach dem Zerfall Jugoslawiens entstanden ist. Doch zu Haue, im eigenen Land, existiert ein so kompliziertes Berechnungssystem mit so vielen Sonderbestimmungen, dass kein normaler Mensch es begreifen kann. Selbst die privaten Steuerberater, die eigentlich davon leben, für andere die verworrene Jahressteuererklärung zu erarbeiten, verlangen inzwischen von der Politik lautstark eine Vereinfachung. Niemand durchblickt mehr den Dschungel ständig neuer Verordnungen, die sich teilweise gegenseitig aufheben. Auch hier ist die Chance der deutschen Einheit vertan worden, eine grundlegende Erneuerung einzuleiten. Stattdessen sind viele neue Bestimmungen hinzugekommen.

4.) Überforderte Sozialsysteme. Nach den erfolgreichen Aufbaujahren in der alten Bundesrepublik sind vorbildliche soziale Sicherungssysteme geschaffen worden, die eine gute Absicherung im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter vorsehen. Für Lateinamerika handelt es sich dabei um geradezu paradiesische Zustände: Die gesetzliche Kassen zahlen bei Krankheit über ein Jahr lang 90% des Lohnes. Im Falle von Arbeitslosigkeit bekommt man im ersten Jahr etwa zwei Drittel seines letzten Lohnes, danach ein deutlich geringeren Betrag (Arbeitslosengeld zwei), aber immer noch genug, um die Miete zu bezahlen, satt zu essen und den Nahverkehr zu benutzen. Im Alter gibt es eine staatlich abgesicherte Rente, deren Höhe davon abhängig ist, wie lange man gearbeitet hat und wie viel man dabei verdient hat, in den meisten Fällen aber ausreichend, um entspannt leben zu können. All diese sozialen Sicherungen werden in Deutschland über ein solidarisches Umlageverfahren finanziert. Das heißt, die gerade Arbeitenden zahlen durch ihre monatlichen Beiträge für diejenigen, die gerade bedürftig sind. Dieses System entstand in einer Zeit, da die Volkswirtschaft jedes Jahr kräftig wuchs und beinahe Vollbeschäftigung herrschte. Heute ist die Situation aber völlig anders: Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 10%, in Ostdeutschland sogar bei 20%, viele Menschen über 55 Jahre arbeiten gar nicht mehr, sondern sind Frührentner geworden, Selbständige und Freiberufler haben die gesetzlichen Kassen verlassen und versichern sich privat, auch Beamte des Staates beteiligen sich nicht an dem Umlagesystem. Das Ergebnis ist, dass nur noch ein Drittel der Arbeitenden in die Sicherungssysteme einzahlt und das Geld dadurch nicht reicht, um die Leistungen für alle anderen mit zu finanzieren.
Bei der Einheit Deutschlands sind auch die Ostdeutschen in diese sozialen Sicherungssysteme aufgenommen worden, ohne es gleichzeitig zu reformieren. Es hätten neue Berechnungsgrundlagen geschaffen werden müssen, aber statt dessen hat man die zusätzlichen Aufwendungen über Schulden finanziert. Nun ist die große Frage ist, wann das gefährdete System zusammenbricht. Alle politischen Parteien erkennen inzwischen an, dass an dieser Stelle dringend gehandelt werden muss, nur ist völlig unklar, wie dies geschehen soll. Hier streiten gegenwärtig die beiden großen Parteien CDU und SPD, die versuchen, eine gemeinsame Regierung zu bilden.

Wie man sieht, kommt man bei der Betrachtung des Standes der deutschen Einheit unweigerlich auf den Zustand der gesamten deutschen Gesellschaft zu sprechen. Sie steht am Beginn des neuen Jahrtausends vor ungewohnten Veränderungen, über die nicht länger hinweggegangen werden kann, sondern die ehrlich benannt und öffentlich diskutiert werden müssen.