Texte

Ein Buch und seine Konsequenzen

„Das Schicksal der DDR-Verlage“ – Eine nicht enden wollende Geschichte
(Beitrag für die Festschrift zum 60. Geburtstag von Professor Siegfried Lokatis, Berlin 2016)

Nachdem mich Klaus G. Saur auf Umwegen dazu gebracht hatte, neben meiner Arbeit als Verleger auch noch ein Dissertationsprojekt anzugehen, stand die Frage der inhaltlichen Betreuung und abschließenden Begutachtung der Arbeit. Prof. Robert Funk vom Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Berliner Humboldt-Universität wollte im Interesse seiner Zunft mehr über das Schicksal der DDR-Verlage erfahren, standen die Bibliotheken im Rahmen ihrer großangelegten Digitalisierungsprojekte doch vor der Aufgabe, „verwaisten Werke“ zu identifizieren, also die Rechtesituation von Büchern zu klären, bei denen sowohl die Autoren als auch die Verlage nicht mehr ohne weiteres aufzufinden waren. Für die Spezifik der DDR-Verlage war nun aber noch ein Spezialist erforderlich, der die Recherchen des Doktoranden prüfen und ihm mit Hinweisen zur Seite stehen konnte. Dafür gab und gibt es in der deutschen Wissenschaftslandschaft nur einen: Siegfried Lokatis in Leipzig. Er hatte sich als Professor für Buchwissenschaft am dortigen Universitätsinstitut für Kommunikationswissenschaften auf die Zeit der DDR spezialisiert, bot die traditionsreiche Buchstadt Leipzig mit ihren vielen Verlagen, Buchhandlungen, Antiquariaten, Bibliotheken, Lehreinrichtungen, Museen und Archiven sowie den dazugehörigen Zeitzeugen doch ideale Bedingungen für ein solches Forschungsfeld.

So entstand in Kooperation zwischen Berlin und Leipzig die Arbeit, die im Jahr 2008 verteidigt wurde und 2009 unter dem Titel erschien „Das Schicksal der DDR-Verlage – Die Privatisierung und ihre Konsequenzen“. Damit glaubte ich, das Thema erledigt zu haben, doch ich hatte eines nicht bedacht: die Konsequenzen für mich selbst. Seit Erscheinen des Buches erreichten mich Anfragen von Historikern, Journalisten, Bibliothekaren und ehemaligen Verlagsmitarbeitern, die Auskunft über höchst spezielle Vorgänge in weit zurückliegender Zeit von mir erwarteten. Hinzu kam, dass sich die Situation in vielen ehemaligen DDR-Verlagen ständig veränderte, da die neuen Eigentümer ihre früheren Erwerbungen entweder weiterverkauften oder schlossen oder in die Insolvenz schickten. Die dramatischen Ereignisse rund um den Aufbau-Verlag füllten zu jener Zeit gerade die Feuilleton-Seiten aller großen Zeitungen.

Ich holte also die vielen Aktenordner mit den Recherchematerialien der vermeintlichen abgeschlossenen Arbeit aus dem Keller wieder in mein Arbeitszimmer hoch, um neue Beiträge dazu heften zu können und bei telefonischen Anfragen leichter Zugriff zu haben. Nachdem die Erstauflage mit 2000 Exemplaren binnen eines Jahres vergriffen war, erschien zur Frankfurter Buchmesse im Oktober 2010 eine zweite Auflage, bei der in 22 der 78 behandelten Verlage ergänzende Aktualisierungen erforderlich waren. Ging es in einigen Fällen lediglich um Firmensitzverlagerungen von Ost nach West oder die Abwicklung einzelner Programmsegmente, zwang mich ein Vorgang zu einer grundlegenden Umgruppierung im Buch, was natürlich auch die Erstellung eines neuen Registers zur Konsequenz hatte: die letztinstanzliche Entscheidung zur wahren Eigentümerschaft des Aufbau Verlages. Nach 14 Jahren Rechtsstreit hatte der Bundesgerichtshof klargestellt, dass die Treuhandanstalt 1991 einen Verlag an die Investorengruppe um Bernd F. Lunkewitz verkauft hatte, der ihr gar nicht gehörte, denn er war nicht im Besitz der SED – wo ich ihn bisher einsortiert hatte –, sondern nach wie vor Eigentum des Kulturbundes.

Erfreulich an den Überarbeitungen zur zweiten Auflage war, dass ich nun auch auf detaillierte Zeitzeugenaussagen zurückgreifen konnte, die mir zuvor nicht zur Verfügung gestanden hatten. Bei mir meldeten sich nicht nur Kollegen aus einstigen Verlagen, die mir überraschende Details aus den abenteuerlichen Privatisierungsprozessen erzählten, sondern auch ein früherer Mitarbeiter der Treuhandanstalt, der zu einem Hintergrundgespräch bereit war. So erfuhr ich unter anderem, dass der Axel Springer Verlag 1991 den Sportverlag der DDR für eine symbolische D-Mark übernommen hatte und anschließend die dazugehörige Zeitschrift „Fußballwoche“ für mehrere Millionen DM an einen anderen Verlag weiterverkaufte.

Der Fluss der Informationen will bis heute nicht enden. Eine ehemalige Kollegin der Leipziger Verlagsgruppe Bibliographisches Institut/Verlag Enzyklopädie hat die zweite Auflage akribisch durchgearbeitet und mir zur Leipziger Buchmesse 2012 ein Arbeitsexemplar mit vielen gelben Klebezetteln überreicht. Daraus geht unter anderem hervor, dass der Verlag Enzyklopädie, den die DDR 1956 gegründet hatte, um die Werke der verstaatlichten traditionsreichen Lexikonverlage international verkaufen zu können, nur formal selbständig, aber organisatorisch von Anfang an mit dem VEB Bibliographisches Institut organisatorisch verbunden war.

Aus der Zeitung erfuhr ich, dass der Thüringer Greifenverlag in Rudolstadt auch im dritten Privatisierungsanlauf kein Glück hatte. 1990 war er zunächst an einen unseriösen fränkischen Geschäftsmann von der regionalen Treuhandbehörde veräußert worden, der dann aber die Kaufsumme schuldig blieb und nach dem Zusammenbruch seines dubiosen Schachtelunternehmens aus Verlagen, Buchhandlungen und Regionalzeitungen von der Polizei gesucht wurde und am Ende im Gefängnis landete. Der zweite Eigentümer, der 1992 mit großen Versprechungen einstieg, bekam mit gefälschten Dokumenten einen millionenschweren Aufbaukredit für den Verlag – und verschwand mit einem Teil der Summe in der Schweiz. 1993 folgte die zweite Insolvenz mit anschließendem Ramschverkauf der Restbestände. 2009 versuchten schließlich Mitarbeiter aus dem Umfeld der Eulenspiegel-Verlagsgruppe in Berlin einen Neustart und gründeten den Greifenverlag neu. Matthias Oehme (Eulenspiegel-Verlag), Frank Schumann (Edition Ost) und der Publizist Holger Elias schufen eine Genossenschaft. Doch auch diese lebte nicht lange und musste im Mai 2011 Zahlungsunfähigkeit anmelden. Am 20. Juli 2011 beschloss das Amtsgericht Gera, den Geschäftsbetrieb des Greifenverlags zu Rudolstadt und Berlin eG endgültig einzustellen.

Ähnlich erging es wenig später Teilen der Eulenspiegel-Gruppe selbst. Der Verlag Das Neue Berlin, in der DDR für Krimis und Science Fiction bekannt, der inzwischen auch Vertriebsaufgaben für den Eulenspiegel-Verlag wahrnahm, ging Anfang August 2014 in die Insolvenz. Doch im Oktober des gleichen Jahres ermöglichte die Insolvenzverwaltung eine Weiterführung durch die alten Eigentümer, da sich kein anderer Käufer fand. Aus der Gruppe heraus löste sich allerdings der Postkarten- und Kalenderbuchverlag „Bild und Heimat“, der 1951 im vogtländischen Reichenbach entstanden war und seit 2010 zur Berliner Eulenspiegel-Gruppe gehörte, dann aber zur Berliner Buchverlagsgesellschaft mbH wechselte, wohin es auch Rotbuch zog.

Die Beschäftigung mit all den DDR-Verlagen und ihrer bewegten Geschichte hat letztlich dazu geführt, dass ich auf Drängen von Klaus G. Saur in der Historischen Kommission des Börsenvereins gelandet bin und nun mit ihm und Siegfried Lokatis zusammen die nächsten Jahre am dicken Band sechs der „Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert“ arbeiten darf, der sich mit dem Geschehen in Verlagen, Buchhandlungen und Bibliotheken der DDR beschäftigen wird. Ich ahne schon, was dies wieder für Konsequenzen haben wird.